Tagungsbericht 2020
„Demokratie – Verfassung und Verfasstheit in Nordrhein-Westfalen“
Wissenschaftliche Jahrestagung des Brauweiler Kreises für Landes- und Zeitgeschichte e.V., Duisburg (Landesarchiv NRW) 12.-13. März 2020
In einer demokratischen Gesellschaft zu leben, ist für uns in Nordrhein-Westfalen und in der Bundesrepublik Deutschland eine Selbstverständlichkeit. Zeigen aktuelle Ereignisse auch, dass selbst eine lange etablierte Demokratie keineswegs unverletzlich ist, so ist sie heute dennoch stabil. Doch wie konnte sich nach dem Ende der nationalsozialistischen Diktatur demokratisches Bewusstsein in der nordrhein-westfälischen Bevölkerung verankern? Welche Möglichkeiten der Teilhabe gibt es für die Bürgerinnen und Bürger? Und wo wurden und werden die Entscheidungen über demokratische Weichenstellungen getroffen? Diesen Fragen ging die aktuelle Jahrestagung des Brauweiler Kreises nach.
Zu Beginn der Tagung begrüßte SABINE MECKING (Düsseldorf/Marburg) als Vorsitzende des Vereins die Anwesenden und führte kurz in das Tagungsthema „Demokratie – Verfassung und Verfasstheit“ ein. Dabei unterstrich sie sowohl die historische Bedeutung als auch die Aktualität des Themas. Den anschließenden öffentlichen Abendvortrag hielt JANBERND OEBBECKE (Münster), der mit juristischem Blick die Aufgaben des nordrheinwestfälischen Verfassungsgerichtshofes beleuchtete. Anhand einzelner Beispiel spürte er den rechtlichen Auswirkungen der verfassungsgerichtlichen Entscheidungen nach. Untersucht wurden dabei Aspekte wie das Wahlrecht, die Rechte von Minderheiten oder die Rechte von Kommunen sowie kommunale Finanzierungsmodelle. Deutlich wurde dabei, dass durch die Entscheidungen des Verfassungsgerichtshofes politische Weichenstellungen oftmals rechtlich unterfüttert wurden und auf diese Weise zu einer größeren Akzeptanz innerhalb der Bevölkerung gelangen konnten.
Am Freitagvormittag begrüßte BETTINA JOERGENS vom Landesarchivs NRW die Tagungsteilnehmerinnen und Teilnehmer. Die Moderation der ersten Sektion übernahm dann SABINE MECKING (Düsseldorf/Marburg). Im ersten Vortrag berichtete SANDRA FRANZ (Krefeld) über den britischen Blick auf die deutsche Nachkriegsgesellschaft. Stereotype Darstellungen nahmen Einfluss auf die Überlegungen der Briten, ob und wie es gelingen könnte, die deutsche Bevölkerung zu demokratisieren. Der deutschen Bevölkerung, insbesondere dem Militär, wurde z. B. eine antrainierte Unterwürfigkeit zugesprochen, darüber hinaus galt sie als nicht demokratiefähig und gleichzeitig allzu selbstbewusst. Ein Schwerpunkt bei der britischen „re-education“-Politik lag daher auf der Erziehung der Jugend, die, im Nationalsozialismus aufgewachsen, dessen Werte auf besonders problematische Art und Weise verinnerlicht hätte. Anschließend referierte JÜRGEN PETER SCHMIED (Düsseldorf) die Entstehungsgeschichte der nordrhein-westfälischen Landesverfassung. Vor allem die KPD und SPD sprachen sich für einen Volksentscheid über die Annahme der Verfassung aus. Die Militärregierung unterstützte dieses Vorhaben. Da der Entscheid allerdings mit den Landtagswahlen im Juni 1950 durchgeführt werden sollte, blieb nur wenig Zeit, um die Bevölkerung über Inhalte und die Vorgehensweise beim Volksentscheid zu informieren. Letztlich sprachen sich 57 Prozent der nordrhein-westfälischen Bürgerinnen und Bürger für die Verfassung aus. Im dritten Beitrag fragte dann PHILIPP ERDMANN (Münster), inwiefern die Kommunen eine zentrale Rolle bei der Demokratisierung der Deutschen spielten. Er stellte heraus, dass die Kommunen und Gemeinden zunächst die einzigen funktionierenden Verwaltungseinheiten bildeten. Mit ihrer „unpolitischen Sachpolitik“ und den personalen Kontinuitäten, die zum Teil bis in die Weimarer Republik zurückreichten, genossen die gemeindepolitischen Gremien in der Bevölkerung ein größeres Vertrauen als staatliche Behörden. Dies wirkte sich positiv auf die Bereitschaft zur politischen Partizipation vor Ort aus.
Die zweite Sektion wurde von MARKUS KÖSTER (Münster) moderiert. CHRISTIAN MÖLLER (Düsseldorf) analysierte in seinem Vortrag am Beispiel von Umweltbewegungen Möglichkeiten der direkten Partizipation. Er stellte heraus, dass die Wechselwirkungen von Bürgerinitiativen und Umweltpolitik bislang für Nordrhein-Westfalen nur schwach erforscht seien, was zum Teil auch an dem nur unzureichend vorhandenen Quellenmaterial läge. Anhand der „IG gegen Luftverschmutzung“ und der „Aktion Volksbegehren gegen Atomanlagen“ wurde das zwiespältige Verhältnis von bürgerlichem Umweltengagement, politischer Umweltbewegung (Die Grünen) und Umweltpolitik nachgezeichnet. Die Vorträge von Julia Paulus über die Neuen Sozialen Bewegungen in der Region und von Thomas Köhler über die Polizei als Scharnierstelle zwischen Staatsmacht und Zivilgesellschaft sind im Zuge der Einschränkungen der Corona-Krise ausfallen.
PETER QUADFLIEG (Eupen) befasste sich im abschließenden Vortrag mit der Verfassungsgeschichte der deutschsprachigen Gemeinschaft in Belgien. Er zeichnete die wechselnden staatlichen Zugehörigkeiten der Region im Verlauf des 20. Jahrhunderts nach sowie den Beginn des rechtlichen Autonomieprozesses in den 1960er und 1970er Jahren. Mit letzterem sollte die verfassungsmäßige Benachteiligung der deutschen Kulturgemeinschaft aufgehoben werden. Aufgrund der föderalen Struktur Belgiens konnte allerdings auch die im Jahr 2014 beschlossene Autonomie des ostbelgischen Parlaments keine abschließende Klarheit über politische Kompetenzen schaffen.
Die Vorträge und Diskussionen haben mit ihren unterschiedlichen Perspektiven und Untersuchungsansätzen einmal mehr verdeutlicht, dass Demokratie ein facettenreiches Zusammenwirken verschiedenster Personen, Gremien und Ebenen bedeutet. Das Aushandeln von Lösungen und Kompromissen wird dabei vor allem dadurch getragen, dass innerhalb der Bevölkerung Demokratiebewusstsein verankert ist und Demokratie als politisches Modell Akzeptanz findet. So bildete die Erkenntnis, dass eine Gesellschaft demokratisches Verhalten lernen muss und kann, den Ausgangspunkt für die britische Nachkriegspolitik im Westen Deutschlands. Über bürgerschaftliches Engagement, politische und juristische Einrichtungen können Bürgerinnen und Bürger in Nordrhein-Westfalen seitdem auf vielfältige Weise die Lebensumstände im Land mitgestalten.
Agnes Weichselgärtner, Bocholt