Rheinland und Westfalen im Freistaat Preußen in der Weimarer Republik
Jahrestagung des Brauweiler Kreises für Landes- und Zeitgeschichte e.V. am 3. und 4. März 2016 in der Abtei Brauweiler (Pulheim-Brauweiler)

Dass die Weimarer Republik eine Phase politischer Umbrüche war, ist hinreichend bekannt. Doch hat man dabei vor allem die politischen Entscheidungen der Reichsregierung vor Augen, die politische Großwetterlage auch auf internationaler Ebene. Was sich jedoch abseits von Berlin in den Regionen abspielte, wie sich deren Verhältnis zur Reichsregierung gestaltete, wurde nun auf der Jahrestagung des Brauweiler Kreises in den Blick genommen. Dabei ging es um Fragen der Machtverteilung wie zum Beispiel um die Rolle der Kommunen und Provinzialverbände oder auch ganz praxisorientiert um die Organisation der Polizei. Auch wurde die Bedeutung der Moderne mit ihren Phänomenen der Massenbewegungen und Urbanität auf die Entwicklung der Kulturszene und des Tourismus untersucht. Immer wieder tauchte dabei auch die Frage nach dem regionalen Selbstverständnis auf, welches durch den Verlust des Ersten Weltkriegs, die Zeit der Besatzung sowie durch die Neuordnung der politischen Verhältnisse innerhalb des Reiches stark erschüttert worden war.
Die Tagung begann mit einer Besichtigung der im Jahr 2008 eröffneten Gedenkstätte Brauweiler. CHRISTINE HARTMANN (Pulheim-Brauweiler) gewährte den Tagungsteilnehmern einen kurzen Überblick über die Geschichte der Arbeitsanstalt und stand anschließend in den Ausstellungsräumen für weiterführende Fragen Rede und Antwort.
Der öffentliche Abendvortrag befasste sich mit dem Spannungsverhältnis von Metropole und Provinz in der Weimarer Republik. GÜNTHER SCHULZ (Bonn) ging der Frage nach, wie das Rheinland in Preußen eingebunden war und untersuchte Machtverteilungen und Handlungsspielräume. Er charakterisierte den untersuchten Zeitraum als eine (Erprobungs-)Phase der Modernisierung und damit einhergehend auch der Systemtransformation, in der politische und gesellschaftliche Grenzlinien überschritten wurden. Der Beginn der Weimarer Republik war für die Kommunen vor allem durch Kriegsfolgen geprägt. Die Ballungsgebiete sahen sich vor die zusätzliche finanzielle Herausforderung gestellt, für eine Modernisierung der Infrastruktur in den Bereichen Energie, Versorgung, Kommunikation (Telefon) und Verkehrswege sorgen zu müssen. Zudem stiegen die Wohlfahrtskosten stark an. Erst der Dawes-Plan im Jahr 1924 machte es möglich, ausländische Kredite aufzunehmen. Reichskanzler Brüning schränkte den Zugang der Kommunen zu ausländischen Geldern jedoch ein, sodass viele Kommunen Schlupflöcher zur Umsetzung ihrer Projekte suchen mussten. Trotz der finanziellen Problemlage stellte die Weimarer Republik für das Rheinland jedoch eine Phase der Selbstvergewisserung dar, in der die Provinz sich als eigenständiger Teil des Reiches erfuhr.
Die erste Sektion der Tagung am Freitag begann mit einer Einleitung durch GEORG MÖLICH (Bonn). Er stellte heraus, dass die Weimarer Republik ein Zeitraum großer Modernisierungstendenzen, aber auch des politischen Radikalismus war. Für die aktuelle Forschung sind daher Fragen nach den Chancen der Demokratie, nach der Diskursfähigkeit der Gesellschaft angesichts der Besatzungssituation sowie nach dem inhaltlichen Bezug zu Demokratien des 21. Jahrhunderts von großem Interesse.
BERND WALTER (Münster) stellte in seinem Beitrag die Rolle der Provinzialverbände während der Weimarer Jahre ins Zentrum. Als nach Kriegsende preußische Werte grundlegend in Frage gestellt wurden und die Verfassungsreform das Staatsgefüge neu gliederte, hatte die Reichsregierung zahlreiche Befugnisse des Provinzialverbandes Rheinland auf den Provinziallandtag übertragen müssen, da die Besatzungsmächte die Neuordnung des Provinzialverbandes untersagten. Insbesondere die Befriedung des von bürgerkriegsähnlichen Zuständen erschütterten Ruhrgebiets wurde in den folgenden Jahren zur vornehmlichen Aufgabe der Provinziallandtage und -ausschüsse. Während der Provinzialverband Rheinland jedoch sein Ziel der regionalen Selbstbestimmung nicht aus den Augen verlor, bestand im westfälischen Pendant die Auffassung, dass Deutschland nur dann wieder zu einem starken Staat avancieren könne, wenn Preußen nicht durch die Selbstständigkeitsbestrebungen der Provinzialverbände innerlich geschwächt würde. In den folgenden Jahren wurde dann die Wohlfahrtspflege zur wichtigsten Aufgabe der Verbände, die aufgrund der Kriegsfolgen mit hohen Kosten belegt war. Auch die Reform des Anstaltswesens wurde den Verbänden übertragen. Persönliche Interessen der Entscheidungsträger und die bald einsetzende erneute Wirtschafts- und Staatskrise hemmten die Reformen letztlich jedoch und entzogen dem Wohlfahrtsstaat den Boden.
Insbesondere auch die Rolle der Polizei spiegelte die gesellschaftlichen Entwicklungen der Weimarer Zeit wider. Diesem Thema widmete sich DANIEL SCHMIDT (Gelsenkirchen), der in seinem Vortrag die personelle Besetzung der Polizei und die Wandlungen ihres Selbstverständnisses darlegte. Nachdem zunächst Freiwilligenverbände Teile der polizeilichen Aufgaben übernommen hatten, etablierten sich eine Ordnungs- und eine Sicherheitspolizei. Misstrauen von Seiten der Bevölkerung und der Siegermächte gegen die schwer bewaffneten und militärisch organisierten Einheiten führte jedoch dazu, dass statt dessen eine Schutzpolizei gebildet wurde, die sich zwar aus dem gleichen Personal rekrutierte, aber deutlich weniger stark bewaffnet war. Doch erst die beruhigte innenpolitische Lage nach 1925 ermöglichte den Aufbau einheitlicher Polizeistrukturen und entwarf das Bild des Polizisten als Freund und Helfer. Der tatsächlich gelebte Militarismus und politische Opportunismus innerhalb der Polizeieinheiten und ihrer Ausbildungszentren stand jedoch häufig im krassen Widerspruch dazu und nur wenige Polizeipräsidenten bemühten sich, republikfeindliche Strömungen in ihren Behörden zu vermeiden. In den Unruhen der frühen 1930er Jahre zeichneten sich der vielerorts geduldete politische Opportunismus und die konservative Ablehnung der Republik schließlich besonders deutlich ab. Mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten wurde die Schutzpolizei wieder stärker bewaffnet und paramilitärisch organisiert. 1936 schließlich verschmolz die Polizei mit der SA. Dabei können die Vorgänge im Westen als „Labor für die Gleichschaltung der Schupo“ gelten.
KARL DITT (Münster) gab Einblicke in das kulturelle Leben der Weimarer Jahre, das zum einen durch bürgerliche Kulturen, Volkstumskultur, Weltanschauungskultur und Massenkultur, aber auch durch eine öffentliche Kulturpolitik gekennzeichnet war. Die Massenkultur, die zunächst Kirmessen oder Varietees umfasst hatte, weitete sich nun auch auf den Bereich des Sports aus. Neuen Aufschwung erhielten die modernen Strömungen der Architektur und des Designs, Kunst- und Literaturszene experimentierten mit neuen Stilrichtungen. Museen wie das Landesmuseum für Kunst und Kulturgeschichte in Münster standen dem Neuen jedoch kritisch gegenüber. Der Provinzialverband Westfalen war gleichfalls nicht am Ankauf bedeutender Kunstsammlung wie der des Museum Volkwang interessiert. Zuspruch erhielt die Moderne in erster Linie von Privatgalerien und Kunstvereinen, die sich auch in Westfalen zahlreich gründeten und Werke von Malern wie Peter August Böckstiegel ausstellten. Dabei legten sowohl die Künstler wie auch die Mitglieder der Kunstkreise trotz ihres Faibles für die Moderne großen Wert darauf, dass die Werke Bezug zu Westfalen hatten oder einen gewissen Volkstumscharakter aufwiesen. Dem Publikum waren die Bilder dadurch leichter zugänglich. Künstler wie Böckstiegel oder auch August Macke empfanden das westfälische Publikum jedoch als rückständig. Wenige Jahre später blieben die Kunstwerke zahlreicher Maler aufgrund ihre „Volksnähe“ von der nationalsozialistischen Zerstörungswut verschont. Einigen Künstlern gelang dadurch ein fließender Übergang in die Kunstszene des „Dritten Reichs“. Unter gleichen Vorzeichen gelangte auch die Heimatkultur zu großer Popularität. Sie ging von einer Prägung der Menschen und Kultur durch „die Landschaft, die Rasse und die Geschichte“ aus, idyllisierte die Vergangenheit, übte Zivilisationskritik und widmete sich der Agrarromantik. Nach der Niederlage des Ersten Weltkriegs bedurften viele Menschen eines positiven Selbstbilds. Die Heimatkultur kam diesem Bedürfnis nach und erhielt in den Nachkriegsjahren viel Zulauf. Dabei wurde sie mit öffentlichen Geldern, insbesondere vom Provinzialverband Westfalen, gefördert, womit man gleichzeitig die regionalen Kräfte als Gegenpol zur Zentralgewalt stärken wollte.
Die Nachmittagssektion der Tagung wurde eingeleitet und moderiert von SABINE MECKING (Duisburg). Die Beiträge fokussierten nun vor allem Städte und Regionen im Rheinland. MARTIN SCHLEMMER (Duisburg) stellte in seinem Vortrag die Entwicklung des Tourismus in der Eifel und dessen Rolle für die Wirtschaft der Region dar. Zu Beginn des Jahrhunderts hatten Tourismusverbände wie der Eifelverein oder der Rheinische Verkehrsverein die aufkommende Agrarromantik genutzt und bislang kaum zugängliche Gegenden touristisch erschlossen, um die Eifel konkurrenzfähiger gegenüber der beliebten Alpenregion zu machen. Nach Kriegsende verzeichnete der Fremdenverkehr in den besetzten Gebieten jedoch große Einbußen, die Manöver der Besatzer schreckten die Touristen ab. Mit dem Bau des Nürburgrings in den 1920er Jahre versuchten die Tourismusverbände in der Folge, den Fremdenverkehr erneut anzuregen. Doch fand die Rennstrecke nicht nur Zustimmung, ihre Gegner bevorzugten einen sanften, landschaftsbetonten Tourismus, den sie nun bedroht sahen. Der Ring sowie ein professionelles Marketing und die Benennung von Ansprechpartner für Gäste sorgten jedoch dafür, dass die Region in den folgenden Jahren trotz des nur zögerlichen Ausbaus der Infrastruktur wieder beliebter wurde und nach dem Ende der Besatzungszeit Ziel des Massentourismus werden konnte. Damit wurde der Tourismus zu einem wesentlichen Wirtschaftsfaktor der Eifel.
Im Jahr 1925 wurden in zahlreichen Orten und Städten des Rheinlands Jahrtausendfeiern begangen. GERTRUDE CEPL-KAUFMANN (Düsseldorf) beleuchtete diese „Geschichtskonstruktion“, die die tausendjährige Existenz der Region feiern wollte, unter den politischen Rahmenbedingungen und setzte sie in Beziehung zum Selbstverständnis der Rheinländer, aber auch zu Fremd- und Feindbilder, die nicht zuletzt durch den verlorenen Weltkrieg erneut vertieft worden waren. Hatten die Veranstalter offiziell mit dem Jahr 925 den Zeitpunkt der Loslösung des Rheinlandes vom lothringischen Reich als Festanlass gewählt (auch wenn der Begriff „Rheinland“ in diesem Zusammenhang nicht korrekt gewählt ist), waren die Jahrtausendfeiern de facto Befreiungsfeiern, mit denen man ein Zeichen gegen den „Erbfeind“ Frankreich als Besatzungsmacht und für die Zugehörigkeit zum Deutschen Reich setzen wollte. Es wurden Festschriften verfasst und Theaterstücke inszeniert, die oftmals an historisch bedeutsamen Orten aufgeführt wurden und somit eine Möglichkeit darstellten, das Verbot von politischen Versammlungen zu umgehen. Zwar war im Jahr der Feiern keine tatsächliche Bedrohung durch Besatzungsmächte mehr vorhanden, dennoch musste sich das Rheinland der eigenen Identität erneut vergewissern. Die Jahrtausendfeiern mit ihrer Spiritualisierung des Rheinlandes boten eine Möglichkeit dazu.
Der letzte Beitrag der Tagung zeichnete mit Originaltönen und Bilddokumenten aus den 1920er und 1930er Jahren die Anfangszeiten des WDR nach. GEORG MÖLICH (Bonn) übernahm die Präsentation der Ton- und Bildquellen von BIRGIT BERNARD (Köln), die nicht anwesend sein konnte. Nach anfänglicher föderaler Strukturierung hatte sich 1926 die Westdeutsche Rundfunk AG (WERAG) formiert, deren Aktien in staatlicher Hand waren. Um das Medium Radio den Menschen in seiner Funktionsweise verständlicher zu machen, lancierte die WERAG 1928 einen Marketingfilm mit dem Titel „Ein Tag in der WERAG“. Die Tagungsteilnehmer konnten Ausschnitte dieses Filmes betrachten, in dem den damaligen Hörern gezeigt wurde, was sich hinter den Kulissen bei den Redakteuren, Reportern, Musikern und Sprechern abspielte. Für technisch Interessierte enthielt der Film eine Zeichentricksequenz, die die Funktionsweise der Radiowellen erläuterte. Die zeitgenössische Politik stand dem Medium Radio zunächst misstrauisch gegenüber, sie sorgte sich um die Überparteilichkeit des Rundfunks. De facto wählten die Redakteure die Nachrichten jedoch aus den Berichten der Tageszeitungen aus, lediglich bei Lokal- oder Sportnachrichten genossen sie redaktionelle Freiheiten. Aufgrund der Vernichtung zahlreicher Unterlagen durch die Nationalsozialisten, Verlusten beim Umzug des WDR in den 1950er Jahren, aber auch wegen der schlechten Speichermöglichkeiten in den Anfangsjahren sind heute nur sehr wenige Tondokumente aus der Weimarer Zeit erhalten. Zwei von ihnen, eine Reportage aus dem Kölner Dom und eine Berichterstattung von den Befreiungsfeiern, beide aus dem Jahr 1930, wurden zum Ende des Vortrags in Auszügen abgespielt. Sie verdeutlichten zum einen anschaulich die große zeitgenössische Begeisterung für die Möglichkeiten, die die neue Technik bot. Zum anderen zeigten die Tonbeispiele, wie sehr das Radio nicht nur Nachrichtenlieferant war, sondern darüber hinaus eine eigene Kunstform darstellte, die ars accustica.
Die Beiträge und Diskussionen der Tagung machten deutlich, dass die Schere zwischen der Berliner Politik und deren Umsetzung in der Provinz zum Teil weit auseinanderklaffen konnte. Es wurden Wege des Arrangements gezeigt, aber auch Möglichkeiten aufgedeckt, allzu einschränkende Vorgaben der Reichsregierung zu umgehen. Die lokale Umsetzung der großen Politik war geprägt von Fragen der Machtverteilung, der Fremdbestimmung durch die Besatzermächte, aber auch von der Faszination, die die Möglichkeiten der Moderne ausübten. Für den Bereich der Kultur und des Tourismus hatte sich gleichzeitig eine stärker werdende Rückbesinnung auf volkstümliche Inhalte gezeigt. Prägend war in allen Bereichen die Erfahrung des verlorenen Krieges und der Besatzungszeit, die auch einen Verlust der eigenen Identität zur Folge hatte. Die Weimarer Jahre können daher als eine Zeit gesehen werden, in der die Menschen, aber auch die Regionen als politische Einheiten versuchten, ihrer Rolle und ihrem Selbstverständnis innerhalb des Reiches, aber auch in Abgrenzung zu den Besatzermächten wieder eine klare Definition zu geben.

Agnes Weichselgärtner, Bocholt