„Narrative der Landeszeitgeschichte“
Wissenschaftliche Jahrestagung des Brauweiler Kreises für Landes- und Zeitgeschichte e.V. am 14. und 15. März 2019, Landtag NRW (Düsseldorf)
Hatte die landeszeitgeschichtliche Forschung den Blick viele Jahre vor allem auf die Phase der Landesgründung Nordrhein-Westfalens, auf die Anfangsjahre des neuen Bundeslandes, auf politische Großereignisse und den Strukturwandel gerichtet, so gibt es seit einiger Zeit einen Wandel in der Schwerpunktsetzung. Anstelle der „großen Geschichte“ rücken nun vermehrt auch Entwicklungen und Ereignissen, die die Lebenswelt der Menschen in Nordrhein-Westfalen unmittelbar betrafen, in das Zentrum der Betrachtung. Zu nennen sind hier z.B. die Studentenunruhen der 1960er und 1970er Jahre, die neuen Bürgerprotestbewegungen, aber auch der technische Fortschritt, der Einzug in das Arbeitsleben und den Alltag der Menschen hielt. Die diesjährige Tagung des Brauweiler Kreises hatte zum Ziel, neue Zugänge zur Landeszeitgeschichte aufzuzeigen, Narrative zu hinterfragen und Denkanstöße zu geben für eine Landeszeitgeschichte, die politische, soziale, kulturelle und technische Entwicklungen in ihre Narrationen mit einbezieht.
Den Auftakt der Tagung bildete eine Führung durch die Ausstellung zur Geschichte des Landtags Nordrhein-Westfalen in der Villa Horion. Daran schlossen sich die Begrüßung durch den Landtagsvizepräsidenten und die Einführung in die öffentliche Abendveranstaltung durch SABINE MECKING an. Den Abendvortrag hielt BASIL KERSKI (Danzig), er widmete sich dem Spannungsverhältnis von nationalen und europäischen Geschichtsnarrativen und berichtete über die Arbeit des Solidarność-Zentrums in Danzig und anderer zeitgeschichtlicher Museen in Polen. Insbesondere das Solicarcość-Zentrum sei als Symbol der polnischen Demokratie zu betrachten, das die Politisierung der Bevölkerung und die Vermittlung der Werte der Solidarność-Bewegung befördere. Gegenwärtig werde dieses Vorhaben jedoch von Seiten der Politik zunehmend erschwert. Problematisch sei dabei vor allem die an Anhängern gewinnende nationalistische Perspektive auf die polnische Geschichte, die mehr und mehr auch politischen Einfluss erhält. Während der „selbstkritische Patriotismus“ die Solidarność-Bewegung als Teil der europäischen Geschichte betrachte und gängige Narrative hinterfrage, sei der neue Nationalismus nicht um eine europäische Erinnerungskultur bemüht. Dieser Konflikt werde nicht zuletzt auch über die Finanzierung der Museen ausgetragen, die zum großen Teil aus öffentlicher Hand gefördert werden und somit ein Politikum darstellen.
Die Moderation der Vormittagssektion am nächsten Tag übernahm DANIEL SCHMIDT (Gelsenkirchen). Der Vortrag von HANS WALTER HÜTTER (Bonn) widmete sich erneut einem Museum, dem Haus der Geschichte in Bonn, wobei der Fokus vor allem auf der Ausstellungskonzeption lag. Hütter stellte heraus, dass eine regelmäßige Akutalisierung der Dauerausstellung unumgänglich sei, um deutsche Geschichte für ein größeres Publikum anschaulich und lebendig zu präsentieren. Ziel sei es, die Vergangenheit zu erklären und Verbindungen zur Gegenwart zu schaffen. Dies erreiche man am ehesten, indem nicht nur Haupt- und Staatsaktionen visualisiert würden, sondern auch deren Auswirkungen auf das Leben der Menschen. Durch die ausgestellten Objekte solle beim Besucher sowohl die kognitive als auch die emotionale Ebene angesprochen werden. Systematisch orientierte Wechselausstellungen ergänzen die Dauerausstellung und geben die Möglichkeit, einzelne Themen zu vertiefen und auch auf aktuelle Ereignisse Bezug zu nehmen. Mit seinem Ausstellungskonzept verfolgt das Museum das Anliegen, Besucher nicht lediglich als Konsumenten entlang der Objekte durch das Gebäude zu schleusen, sondern durch den emotionalen Bezug das Geschichts- und Gegenwartsbewusstsein der Menschen zu fördern und so einen Beitrag zur Demokratieerziehung zu leisten.
Über Musik und Bilder das Publikum emotional anzusprechen, ist charakteristisch für das Medium Fernsehen. Dies wurde auch in den Mitschnitten des regionalgeschichtlichen Fernsehprogramms des WDR deutlich, die BEATE SCHLANSTEIN (Köln) präsentierte. Beschränkten sich landesgeschichtliche Themen anfangs vor allem auf die Übertragung von Landtagssitzungen, fanden seit Mitte der 1990er Jahre zunehmend auch geschichtliche Beiträge Eingang in das Programm. Verschiedene Formate wie „Unser Land“, „Regenten am Rhein“ und ähnliche informieren die Zuschauer seither über die Geschichte des Landes Nordrhein-Westfalen. Gemeinsam ist vielen dieser Dokumentationen, dass sie den Einstieg in das jeweilige Thema über bekannte Narrative und Musik schafften, um dann im Verlauf der Sendung neue Informationen zu liefern oder auch Irritation und somit Auseinandersetzung zu erzeugen. Die ausgewählten Themen knüpfen dabei an die Lebenswelt der Menschen an, wobei die emotionale Ebene zunehmend an Bedeutung gewinne. Gleichwohl könnten die Filme aufgrund ihrer Machart lediglich Collagen sein, die ein bestimmtes Bild der Vergangenheit anbieten. Als Quellen für das filmische Material dient vor allem das Archiv des WDR als „visuelles Archiv Nordrhein-Westfalens“.
UWE ZUBER (Duisburg) wies auf grundlegende Schwierigkeiten bei der Sammlung archivischer Quellen der jüngeren und Zeitgeschichte hin. Als besondere Herausforderung entpuppen sich gegenwärtig zum einen Lücken in der Dokumentation von Vorgängen, die zum Teil bereits lange vor der Sichtung der Materialien durch Archivare entstanden seien; so sind z.B. Handakten, Magnetbänder oder Microfiches zu politischen und administrativen Vorgängen vernichtet worden. Der Referent hob hervor, dass Schriftlichkeit zunehmend an Bedeutung verliere und eine nachhaltige Aktenführung oftmals unter ökonomischen Gesichtspunkten vernachlässigt werde. Archivare würden zudem auch durch den technischen Fortschritt vor große Herausforderungen gestellt. Die Flüchtigkeit und Unüberschaubarkeit von Informationen bei Instant-Messaging-Diensten oder auf Websites, aber auch fehlende Codes oder Datensatzbeschreibungen erschweren eine repräsentative Archivierung der Materialien. Gleichzeitig müsse sich auch die Art und Weise der Archivierung an neue technische Möglichkeiten anpassen, sodass IT-Kenntnisse sowohl für Archivare als auch für die Nutzer von Archiven unabdingbar werden und fortan zum aktuellen hilfswissenschaftlichen Kanon gezählt werden müssten.
Mit einem Vortrag über landeshistorische „Meistererzählungen“ leitete CHRISTOPH NONN (Düsseldorf) die von ALFONS KENKMANN (Leipzig) moderierte Nachmittagssektion ein. Der Referent stellte zunächst politische Charakteristika der Gegenwart dar, wie etwa die Erosion des etablierten Parteiensystems oder auch das schwindende Ansehen demokratischer Werte und Organisationen. Aus der daraus entstehenden allgemeinen Verunsicherung resultiere ein wachsendes Interesse der Menschen an der eigenen Geschichte. Daher stelle sich die Frage, welche Narrative der Landesgeschichte erzählt werden sollen. Ein sinnvoller Schwerpunkt hierfür wäre aus Sicht des Referenten zum Beispiel die Geschichte der demokratischen Traditionen des Landes. Vermittelt werden könnte sie anhand verschiedener Themenfelder der alltäglichen Lebenswelt: die individuellen Lebensbedingungen, aber auch das menschliche Zusammenleben, der Bereich der Arbeit, aber auch das Leben jenseits der Arbeitszeit. Ein so gestalteter anthropologischer Zugriff der Landeszeitgeschichte könne Entwicklungen transparent machen und auf diese Weise isolierte Erinnerungen vermeiden.
Anknüpfend an die zuvor schon thematisierte digitale Herausforderung der Archive widmete sich MALTE THIEßEN (Münster) der digitalen Transformation seit den 1970er Jahren. Zunächst stellte er die These auf, dass es sich bei der Digitalisierung keineswegs um eine Zäsur, sondern um einen Wandel in der longue durée handele. Zunehmende Bedeutung erlangte die Digitalisierung in den 1960er Jahren, als mit der einsetzenden Planungseuphorie in der Politik auch die Automatisierung von Verwaltungsvorgängen Einzug in das Leben der Menschen hielt. Beides weckte Ängste, sodass die Weiterentwicklung der technischen Möglichkeiten wie Homecomputer in den 1980er Jahren zunächst nur in Subkulturen Zuspruch gefunden habe. Dies änderte sich durch die Einführung des Informatikunterrichts zunächst an den Gymnasien, später auch an den Real- und Hauptschulen. Zunehmend wurde Digitalität jetzt auch zum Raumordnungsmerkmal, ein flächendeckender Ausbau des Netzes wurde angestrebt. Eine Zäsur hierbei bildete die Privatisierung der Post, die den Wettbewerb der Städte untereinander und von Stadt und Land um die bestmögliche Erschließung beförderte. Nicht zuletzt hier mache die Digitalisierung gesellschaftliche und politische Wandlungsprozesse sichtbar.
Zum Abschluss der Tagung berichteten STEPHAN GOCH (Düsseldorf) und GUIDO HITZE (Düsseldorf) über den Planungsstand bei der Entwicklung einer Ausstellungskonzeption für das neue Haus der Geschichte Nordrhein-Westfalen. Dabei stellt sich vor allem die Frage der Kategorisierung der nordrhein-westfälischen Geschichte. Zwar scheint eine chronologische Ordnung der Ausstellung bedingt sinnvoll zu sein, eine weitere Unterteilung nach Dekaden oder Wahlperioden sei aber zu kleinteilig, so meinten die Referenten. Die Binnengliederung der Ausstellung ist somit noch offen. Zentrale Bezugspunkte sollen in jedem Fall die Demokratiegeschichte und Politikgeschichte des Landes bilden. Das Haus der Geschichte NRW will eine Beitrag zur Demokratieerziehung leisten und eine Auseinandersetzung mit Gegenwart und Vergangenheit erwirken.
Die unterschiedlichen Beiträge und die lebhaften Diskussionen der Tagung haben gezeigt, dass Landeszeitgeschichte allein als „Geschichte von oben“ nicht mehr vermittelbar ist. Will man den Besucher im Museen, den interessierten Laien, den politisch interessierten Bürger für die Geschichte des Landes Nordrhein-Westfalen begeistern, so ist es unerlässlich, einen Bezug zwischen Vergangenheit und Gegenwart, zwischen historischen Ereignissen und dem alltäglichen Leben herzustellen. Doch ist dies nicht die einzige oder vorrangige Motivation für einen neuen Zugang zur Landeszeitgeschichte. Durch die geänderte Perspektive können alte Narrative aufgebrochen werden, gesellschaftliche Spannungslinien werden deutlich. Die Beiträge haben aber auch anschaulich gezeigt, dass die Entstehung oder das Überdauern von Narrativen de facto oftmals auch politischen Einflüssen geschuldet ist. Hier kann die landeszeitgeschichtliche Forschung mit den genannten neuen Zugängen ansetzen, um einen vielschichtigen Blick auf die Geschichte Nordrhein Westfalens zu fördern und ihrer Vereinnahmung durch Politik und Administration entgegenzuwirken.
Agnes Weichselgärtner, Bocholt