Geschichte im Westen 2025

Mit neuen Geschichtsbewegungen im Nordrhein-Westfalen der 1970er und 1980er Jahre beschäftigt sich der Themenschwerpunkt des Jahresheftes 2025. Er beleuchtet damit einen grundlegenden Perspektivwechsel der Lokal- und Regionalgeschichte im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts: die Hinwendung zur Geschichte des „kleinen Mannes“ und der „kleinen Frau“, zur „Geschichte von unten“. Der schwedische Literaturhistoriker Sven Lindquist prägte dafür 1978 in seinem „Handbuch zur Erforschung der eigenen Geschichte“ die Formel „Gräv där du står / Grabe, wo Du stehst“. Gerade in Nordrhein-Westfalen stieß diese Idee auf fruchtbaren Boden. Hier waren die 1970er und frühen 1980er Jahre ein Jahrzehnt verschiedenster Aufbrüche und Anstöße für lokale und regionale Geschichtsarbeit: Gedenkstätten, Geschichtswerkstätten, Oral-History-Projekte, alternative Buchläden und erste Archivsammlungen zu den neuen sozialen Bewegungen entstanden.

Dieser Aufschwung historischen Interesses vor Ort ist umso bemerkenswerter, als die Geschichtswissenschaft zu Beginn der sozialliberalen Ära der Bonner Republik in einer tiefen Akzeptanz- und Relevanzkrise steckte. Zugleich veränderte sich in dieser Zeit die gesamtgesellschaftliche Stimmung in Westdeutschland. Fortschrittseuphorie und Machbarkeitsglauben wichen zunehmend einem Krisenbewusstsein und einer kritischen Reflexion der Folgekosten der rasanten Modernisierung der Nachkriegsjahre; etwa in den Bereichen Ökologie, wirtschaftlicher Strukturwandel oder Städtebau. Wachsender Widerstand regte sich zum Beispiel gegen die Zerstörung historischer Bausubstanz in den Innenstädten; parallel wuchs das Interesse an den Geschichten der „ganz normalen Leute“, die dort einst lebten. Allgemein scheint es nach 1970 einen Trend gegeben zu haben, sich intensiver mit der Geschichte des eigenen Lebensumfeldes zu befassen und diese stärker wertzuschätzen.

Vor diesem Hintergrund stellen sich mehrere Fragen, die als Leitgedanken für den Themenschwerpunkt von „Geschichte im Westen 40 (2025)“ dienen:

  • Welche Motive und Impulse führten seit Anfang der 1970erJahre zur Hinwendung zur „Geschichte von unten“?
  • Wer waren wichtige Akteurinnen und Akteure im Rheinland und in Westfalen und welche Beweggründe prägten ihr Engagement?
  • In welchen Formen vollzog sich die alternative Geschichtsarbeit und in welche Richtungen entwickelte sie sich?
  • Und schließlich: Inwiefern beeinflussten die neuen Geschichtsbewegungen die etablierte historische Arbeit, universitäre Forschung und Lehre sowie die traditionellen Geschichts- und Heimatvereine und auch den Geschichtsunterricht?

Diesen und weiteren Fragen geht diese Publikation in sechs aufschlussreichen Beiträgen nach. Alfons Kenkmann eröffnet den Reigen mit einer fundierten Analyse der Herausforderungen, denen sich die etablierte Geschichtswissenschaft in den frühen siebziger Jahren gegenübersah, nicht zuletzt durch die „Geschichte-von-unten“. Er kommt zu dem Schluss, dass die alternativen historischen „Suchbewegungen“ erweiterte Narrative und Deutungen der Vergangenheit eröffneten und der Beschäftigung mit Geschichte so zu neuer Konjunktur verhalfen. Ulrike Löffler fokussiert den Blick auf die Gedenkstättenarbeit der 1980er und hebt drei Gründungsimpulse hervor: einen eher linken „Antifaschismus“, das christliche „Versöhnungsmotiv“ und einen demokratiebildenden Ansatz. Thomas Finkemeier beleuchtet die facettenreiche Szene der links-alternativen Geschichtsbewegungen im Ruhrgebiet, die anders als in anderen Regionen der Bundesrepublik nur selten explizit als „Geschichtswerkstätten“ auftraten, jedoch den gleichen radikal subjektiven und systemkritischen Ansatz von Geschichte verfolgten.

Sabine Kittel und Bärbel Sunderbrink vergleichen in ihrem gemeinsamen Beitrag den Aufbruch von „Frauengeschichtsinitiativen“ in der Industriestadt Gelsenkirchen im Ruhrgebiet und dem nicht nur räumlich am Rande Nordrhein-Westfalens gelegenen Lippe. Trotz der unterschiedlichen Strukturen teilten die Initiativen in beiden Regionen nicht nur das zentrale emanzipatorische Anliegen, die Bedeutung der weiblichen Geschichte offenzulegen, sondern auch die von beiden Gruppen gewählten Methoden, insbesondere die der „Oral History“. Bettina Joergens geht aus archivischer Perspektive der Frage nach, inwieweit das Erbe der damals „neuen sozialen Bewegungen“ in Archiven überliefert ist. Ihr Beitrag ist ein engagiertes Plädoyer dafür, die Geschichte der zivilgesellschaftlichen Bewegungen als wichtige Erinnerungsspeicher einer demokratischen Gesellschaft zu sichern. Im letzten Beitrag des Themenschwerpunkts ordnet Katrin Minner die Frühgeschichte Brauweiler Kreises (1978 -1993) und das Wirken von Walter Först als „Initiator und Dirigent“ in die allgemeinen Entwicklungen ein. Zwar war das Netzwerk nie eine „Geschichtsbewegung von unten“, doch es nahm das neu aufgekommene historische Interesse und die innovativen Forschungsansätze anerkennend auf, ohne eine gewisse akademische Distanz aufzugeben.

Außerhalb des Themenschwerpunkts ergänzen vier weitere Beiträge zur Lan¬deszeitgeschichte das Heft: Fabian Köster vergleicht die kommunale Kulturpolitik der Industriestädte Gelsenkirchen und Wolfsburg während der „Wirtschaftswunderzeit“. In beiden Städten fanden sich bemerkenswert früh Ansätze einer innovativen demokratischen Kulturpolitik, bei denen vor allem Kulturangebote für die arbeitende Bevölkerung im Zentrum standen. Jonas Becker zeichnet die langwierigen Debatten über die Etablierung des Datenschutzes als Grundrecht in der nordrhein-westfälischen Verfassung und Gesetzgebung zwischen 1971 und 1988 nach. Auch der Beitrag von Dimitrij Davydov widmet sich aus rechtshistorischer Perspektive der Entwicklung der Denkmalerfassung von Objekten mit NS-Unrechtsgeschichte in Nordrhein-Westfalen seit 1980 und zeigt, dass sich das Verständnis des gesetzlichen Denkmalbegriffs in den vergangenen Jahrzehnten gewandelt und speziell das Bewusstsein für den Erhaltungswert von Bauten und Orten mit NS-Vergangenheit deutlich erhöht hat.

Schließlich begibt sich Christoph Lorke auf die Spuren der Ruhrgebiets- Kultfigur Schimanski, der zwischen 1981 und 1991 im Duisburger „Tatort“ ermittelte. Auf Basis von Leserbriefen an den WDR untersucht er die zum Teil heftigen Reaktionen auf die von Götz George gespielte Figur und das in den Episoden vermittelte Ruhrgebiets-Bild. Seine Darlegungen werfen – wie viele Beiträge des Jahreshefts – nicht zuletzt ein scharfes Licht auf die massiven gesellschaftlich-kulturellen Konfliktlinien, die die 1970er und 1980er Jahre im Westen der Bundesrepublik durchzogen. Alle Beiträge belegen, dass die nordrhein-westfälische Landes(zeit)geschichte gerade jenseits der engeren Politikgeschichte ein ergiebiges und spannendes Forschungsfeld bleibt.

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Inhalt:

  • Markus Köster: Editorial (S. 7-10)

Schwerpunktthema: Neue Geschichtsbewegungen in Nordrhein-Westfalen

  • Alfons Kenkmann: „Geschichte von unten“ versus „Geschichte von oben“? Historische Suchbewegungen und ihre Akteurinnen und Akteure (S. 11-32)
  • Ulrike Löffler: Zwischen „Antifaschismus“, „Versöhnung“ und staatsbürgerlicher Erziehung. Gedenkstättenarbeit in Nordrhein-Westfalen in den 1980er Jahren (S. 33-47)
  • Thomas Finkemeier: Radikal subjektiv: Geschichte von, für und über unten. Geschichtswerkstätten der 1980er und 1990er Jahre in Nordrhein-Westfalen, insbesondere im Ruhrgebiet (S. 49-65)
  • Sabine Kittel und Bärbel Sunderbrink: Frauengeschichtsinitiativen in Stadt und Peripherie. Akteurinnen – Themen – Nachwirkungen in Gelsenkirchen und Lippe (S. 67-92)
  • Bettina Joergens: (Neue) Soziale Bewegungen – „festgehalten“ für immer? Archive der demokratischen Zivilgesellschaft (S. 93-112)
  • Katrin Minner: Walter Försts neuer Kanal. Die Frühgeschichte des Brauweiler Kreises (1978-1993) (S. 113-139)

Freie Beiträge außerhalb des Schwerpunktes

  • Fabian Köster: Pioniere der Neuen Kulturpolitik? Die Industriestädte Gelsenkirchen und Wolfsburg während der ,Wirtschaftswunderzeit‘ (S. 141-163)
  • Christoph Lorke: „Schmutzspur durch das Revier“. Reaktionen auf das Ruhrgebiets-Bild der Schimanski-Tatorte (S. 165-188)
  • Jonas Becker: Ein neues Grundrecht. Nordrhein-Westfalen und der Datenschutz (1970-1988) (S. 189-213)
  • Dimitrij Davydov: Die Erinnerungsfunktion des Denkmalschutzes. Objekte mit NS-Unrechtsgeschichte und die Denkmalerfassung in Nordrhein-Westfalen (S. 215-240)

Tagungsbericht

  • Julia Volmer-Naumann: „Geschichte von unten“ – Neue Geschichtsbewegungen in Nordrhein-Westfalen (1970-1985). Wissenschaftliche Jahrestagung des Brauweiler Kreises für Landes- und Zeitgeschichte e.V., Münster, 6.-7. März 2025 (S. 241-246)